Die Rühler Tracht

Unsere Tracht hat, wie die Thüringer Trachtenforscherin Luise Gerbing schon vor über 100 Jahren schrieb, "seit Menschengedenken als etwas Besonderes gegolten". Das wird indirekt durch den Bericht des Eisenacher Chronisten Joh. Wilh.. Trapp bestätigt, nach dem 1746 am dritten Tag der Feierlichkeiten zur Hochzeit des Fürsten Günther von Schwarzburg-Rudolstadt nach einer Schifffahrt in Wilhelmsthal "die Ruhlaer ihre alte Tracht und ihre alten Tänze" der Festgesellschaft vorführten. Wären diese nichts Besonderes gewesen, hätte man die Rühler wohl nicht zur Fürstenhochzeit geholt.

Die Rühler Tracht war damals anders, als wir sie heute kennen. Wie die Frauentracht um die Mitte des 18. Jh. ausgesehen hat, daran konnte man sich noch erinnern, als C. F. Mosch und F. C. Ziller 1812/13 ihr Buch "Versuch einer Beschreibung der Sachsen-Gothaischen Lande" schrieben. Sie berichteten darin: "Die Weiber zeichneten eine Art von Schleyer, zwey Arten großer brauner Pelzmützen und die Schurztracht der Dörfer Kabarz und Tabarz aus. Den Kopf umwanden sie auch fast turbanförmig mit einem Tuche, so dass über die Stirn zwei Zipfel desselben festgebunden wurden, der dritte aber über den Scheitel nach dem Rücken hinab hing …" Abbildungen, auch von Trachten aus Tabarz, Zella St. Blasii und Mehlis zum Vergleich, fügten sie bei. Die zwei dargestellten Ruhlaer Frauen wurden 1908 von Hanns Bock für die Veröffentlichung über die Ruhlaer Tracht (s. Lit.) originalgetreu nachgezeichnet. Als Grundelemente dieser einstigen Frauentracht sind zu bezeichnen: graubrauner oder hellgrauer langer Rock, weißes Ärmelmieder bzw. weiße Bluse, farbiges Leibstück bzw. Schnürmieder mit Bortenbesatz, auffällige Kopfbedeckungen wie Pelzmützen, die auch im Sommer getragen wurden, und tütenartige weiße Hauben, Schleier genannt.

Diese Bezeichnung kam daher, dass ursprünglich, wie noch durch Augenzeugen überliefert, vorne Bänder von der Haube herabhingen, die eine Art Gesichtsschleier bildeten. Später fielen die Schleierbänder weg, der Name blieb. Auf der Abbildung fällt bei beiden Frauen das mehrmals um den Leib gewickelte schwarze Band auf. Es diente zum Festhalten des Rockes, wenn er auf Wadenlänge hochgezogen, also geschürzt war, daher der Name der Tracht. Auf dem Bild ist das Band auch bei langem Rock umgewickelt, wahrscheinlich um es im Bedarfsfall gleich bei der Hand zu haben, oder man kannte zur Zeit der Entstehung des Bildes die eigentliche Funktion des Bandes nicht mehr. Über dem Gurtband ist ein Wulst zu sehen, der, wahrscheinlich am Leibstück befestigt, zum Halten des Rockes diente, wenn das Band nicht umgewickelt war. Ob die rechts stehende Frau eine Schürze oder einen hellfarbigen Rock trägt, ist nicht ersichtlich. Bei der links stehenden Frau deutet nichts auf eine Schürze. Auffällig sind auch die roten Strümpfe. Eine Tracht wie dargestellt ist sicher nur von den bessergestellten Frauen getragen worden, denn es gab die Kleiderordnungen, die für das Volk geringwertige Stoffe, einfache, schmucklose Kleidung und dunkler gehaltene graue Farben vorschrieben.

Die Trachtenforscherin Luise Gerbing gab an, dass die Schurztracht in Ruhla "ab Mitte des 18.Jahrhunderts allmählich" verschwand. Lt. Dr. Helga Raschke wurde sie in Cabarz und Bad Tabarz noch Jahrzehnte länger getragen.
Die Autoren K. E. A. von Hoff und C. W. Jacobs gaben der Beschreibung Ruhlas in ihrem Buch von 1807 "Der Thüringer Wald, besonders für Reisende geschildert" einen Kupferstich mit der Darstellung zweier Rühlerinnen in alter Tracht bei, die sich im Gelände begegnen. Die links stehende hat, wie auch durch die weit hochgezogene Taille ersichtlich, das Schürzband um den Leib gewickelt, allerdings auch bei langem Rock. Dieser scheint schon gemustert zu sein und eine querlaufende Kante zu haben. Deutlich ist die helle Schürze zu sehen. Anstatt Ärmelmieder und Schnürleibchen trägt die Frau schon eine Jacke und ein zur Schleife gebundenes Halstuch. Anstatt Pelzmütze oder Schleierhaube hat sie ein Kopftuch, aber ohne Zipfel. Die andere Frau trägt ein Kopftuch mit seitlichen Schleifen und Zipfeln. Leider sind ihre anderen Trachtenstücke durch einen Mantel verdeckt. Die Kleidung der links stehenden Frau ist als die Vorstufe der späteren Ruhlaer Frauentracht anzusehen.
Eine Nachricht über die Tracht der "Altvorderen", also über eine alte Rühler Männertracht, findet man auch bei Mosch und Ziller in ihrer Landesbeschreibung von 1813: "Diese Alten trugen Schuhe und weiße Strümpfe, rothe lange Westen, gelblederne Beinkleider und hellblaue Ärmeljacken, auch eine mit buntem Deckel versehene Pelzmütze". Wann diese "Altvorderen" mit dieser Kleidung gelebt haben, ist unklar. Eine solche Farbigkeit in der Männertracht in der Zeit der Schurztracht der Frauen, also noch während der Gültigkeit der Kleiderordnungen, ist sehr unwahrscheinlich. Für spätere Jahrzehnte liegen jedoch andere Beschreibungen von Einheimischen vor, in denen es die generelle Einheitlichkeit gelblederne Hose, rote Langweste, blaue Jacke nicht gibt. Mosch und Ziller haben offensichtlich eine vage Einzelangabe verallgemeinert. Unverständlich ist es daher, dass vor Jahren in der Vereinigung "Alt-Ruhla" diese Beschreibung als Grundlage für eine Uniformierung in der Nachbildung der Rühler Männertracht angesehen wurde.
Der Wechsel in der Tracht in der zweiten Hälfte des 18. Jh. erfolgte in Ruhla nicht zufällig in derselben Zeit wie der wirtschaftliche und soziale Wechsel vom innungsbetonten Messerschmiedehandwerk zum sich ohne Innungen frei entwickelnden Tabakpfeifengewerbe. Tonangebend im Ort waren schließlich nicht mehr die Handwerksmeister, sondern die Manufakturbetreiber, Händler und Verleger mit ihrem größeren Wirkungskreis. Dementsprechend änderten sie auch ihr äußeres Erscheinungsbild, und die Ortsarmut passte sich mit billigeren Stoffen und einfacheren Ausführungen an.

Wie die Tracht der Kirmesjungfern in den 1790er Jahren aussah, erzählte als Augenzeuge der 84-jährige Drechsler Justinus Robus ("Höätines") dem Pfarrer Jacobi, der es 1868 schriftlich festhielt und der Kirchenchronik beigab: "Die Kirmesjungfern trugen Schuhe und weiße oder rothe Strümpfe und einen sog. Kantelrock von mittlerer Länge, von Wolle, hellgrüne oder dunkelgrüne Grundfarbe, auch roth oder blau, mit hellen Blumen, Sternen, Tupfen oder anderen Mustern, darauf eine seidene oder baumwollene gestreifte
Schürze und eine dunkle Jacke, deren Ärmel zum unteren Arm hin weit abhängend waren, über der eng schließenden Jacke Dukatenschmuck an einer Kette oder Schnur oder auch einen Silbertaler, unter denselben einen bunten Halslappen, um den Kopf das sog. krippelbunte Molchstuch von baumwollenem ostindischem Stoff, meist roth mit gelben Blumen, Sternen, Tupfen, die Zipfel zur Seite gebunden. Kopfschmuck für Kirchgang und Feierlichkeiten war die sog. Sperrkappe."
Eine Nachricht über die Tracht der jungen Rühler Männer in dieser Zeit geht auch auf Justinus Robus zurück. Nach dessen Informationen schrieb Pfarrer Jacobi: "Die Burschen trugen in der Regel grüne manchesterne Kniehosen, bisweilen auch ziegen- oder wildlederne, Stiefel, jedoch so, dass unter dem Knie die Strümpfe vorsahen, die durch Band und Schnalle unter den Hosen gehalten wurden. Westen waren ebenfalls von einfarbigem Manchester, grün, Sonntag zuweilen auch von Scharlachtuch mit tuchbezogenen oder übersponnenen Knöpfen, auf der oberen Brust offen. Das Halstuch, sog. Molchstuch, war ein baumwollenes ostindisches Tuch, vornehmlich gelb als Grundfarbe mit andersfarbigen Blumen oder anderen Verzierungen, auch ganz bunt, wie auch das den Kirmesjungfern geschenkte Tuch. Dazu trugen sie eine Jacke von dunklem Tuch, die nach hinten einen Schoß hatte, mit äußeren Taschen und auf dem Kopfe eine sog. Zipfelmütze weiß oder grau von Baumwolle mit einem unten roth und blau umlaufenden Doppelstreifen. Der dreieckige Hut war Kopfbedeckung für den Kirchgang und andere solenne Gelegenheiten."
Die Rühler Tracht, wie sie heute getragen bzw. gezeigt wird, geht darauf zurück, wie man sich Ende des 19. Jh., als sie aus Alltag und Feiertag bereits einige Zeit verschwunden war, noch an sie erinnerte oder noch Originalstücke vorhanden waren. Entstanden war sie in dieser Art also Ende des 18. Jh., als mit der Französischen Revolution auch die Kleiderordnungen endgültig abgeschafft waren und die Ruhlaer Kaufleute von ihren Handelsreisen durch halb Europa und ihren Messe- und Marktbesuchen Stoffe und Beiwerk für eine neuartige Kleidung mitbrachten. Auf der Basis der Eigenart der Rühler, neuer Ideen ihrerseits und sicher der Absicht, auch eine etwas andere Kleidung zu haben als die Bewohner der Dörfer des Umlandes, konnte sich eine besondere Tracht entwickeln. Von den Trachten der meist landwirtschaftlich geprägten Dörfer der Umgebung, wo mehr dunkle Stoffe bevorzugt wurden, unterscheidet sich die Rühler Tracht neben ihren besonderen Elementen auch durch ihre farbige Vielfalt, die bei Frauen und Männern zu sehen ist. Bereits die Schurztracht der Frauen war farbiger als die in Kabarz und Tabarz.
Die besonderen Elemente und die vielen Farben an der Rühler Tracht fallen bei Trachtenaufzügen immer wieder auf und sind Anlass zu Sonderbeifall. Lob und Preise für die Tracht sowie ihre Erhaltung und Pflege gab es schon mehrere Male, zuerst 1908, 1910 und 1911 auf den Thüringer Trachtenfesten in Reinhardsbrunn und Gotha durch Herzog und Herzogin, dann 1914 auf dem 1. gesamtdeutschen Trachtenfest in Mainz und in den 1920er Jahren zu Trachtentreffen in Erfurt bis hin zur Auszeichnung mit dem Prädikat "Deutsche Tracht des Jahres 2007" durch den Deutschen Trachtenverband.
Die Eigenarten der Frauentracht sind der ganzflächig gemusterte "Kantelrock" und der "Haitlappen". Der Name Kantelrock kommt von der etwa 20 cm breiten Kante mit querlaufenden Ranken oder anderen Mustern über dem Rocksaum. Die Hauptfarben der Röcke waren/sind grün, lila und rotbraun. Die Musterung bestand ursprünglich aus vom Rokoko beeinflussten blauen Muschelmotiven und Ranken, später aus stilisierten, mit Ranken verbundenen Blüten und Blättern, auch aus geometrischen Motiven. An der Innenseite des Rockes ist unten ein etwa 20 cm breiter, scharlachroter Streifen eingenäht, der an den einst roten, oberen Festtagsunterrock erinnert. Der Haitlappen, also das Kopftuch, entstanden aus dem vom Mittelalter her bekannten Stirnband der Frauen, wird aus einem Dreiecktuch zu einem Band zusammengelegt, um das geflochtene und aufgesteckte Haar geschlungen und mit Stecker und Zierkamm gehalten. Die Farben der Tücher sind bei jungen Frauen rot, mittelgrün, mittelblau oder mittelviolett. Hellgelb, hellrosa, hellblau oder andere Pastelltöne hat es grundsätzlich nicht gegeben. Bei älteren Frauen sind die Farben dunkelgrün, braun bis dunkelbraun, dunkelblau oder dunkelviolett, einst gab es sogar schwarze Tücher. Reichere Frauen trugen den Haitlappen hinten, ärmere nach der Stirn zu. Die mit Fransen versehenen Zipfel, die über das rechte oder auch linke Ohr herabhängen, sind mit alten, überlieferten Mustern bunt bestickt, auch mit kleinen Schmelzperlen. (Die Stickmotive auf den zwölf im Museum bis in die 1960er Jahre noch vorhanden gewesenen Originalhaitlappen wurden von mir abgezeichnet und liegen als Muster für Nachbildungen vor.) Schwarze Kappen/Hauben hat es auch gegeben. Sie wurden in einfacher Art von den älteren Schulmädchen und in aufwändiger Art und Form ("Sperrhait") von älteren Frauen zum Kirchgang getragen.
Ein weiteres Objekt der Frauentracht ist die mit weiten Oberärmeln und auf der Schulter gezogenen Falten versehene kurze Jacke (nicht Bluse!). Diese Rühler Jacken unterscheiden sich von anderen, in der Form ähnlichen Thüringer Trachtenjacken auch durch ihre Farbigkeit. Sie können auch bunt gemustert sein. Auf alle Fälle haben sie nie dieselbe Farbtönung wie der Kantelrock, und so können Rock und Jacke nicht als Kleid angesehen werden. Die Jacken können einen weiteren Ausschnitt haben oder auch höher geschlossen sein. Ein etwas breiterer Halskragen hatte oft einen gerollten Saum.
Zur alten Rühler Frauentracht gehörte ursprünglich nicht unbedingt eine Jacke. Sie kam als fester Bestandteil erst im Laufe der Zeit, besonders mit dem Einfluss des Biedermeiers dazu, wurde aber im Sommer zu Ärmelmieder - Leibstück - Kantelrock kaum getragen. Diese Zusammenstellung ist also nicht, wie fälschlicherweise oft bezeichnet, die Arbeitstracht, sondern die alte Rühler Sommertracht der Frauen, die noch mit einem bunten Rosentuch als Schultertuch ergänzt wurde. Das Annähen des Kantelrocks an die Jacke ist erst eine relativ späte Erfindung in der Vereinigung "Alt-Ruhla". Oft hatte das Leibstück einen Wulst, über dem der Rock gehalten wurde. Zur Zusammenstellung ohne Jacke als Sonntagstracht gehörten außer dem dann langärmeligen Mieder - Ärmel unten mit Durchbruchmuster - auch schwarz-weiße, durchbrochen gestrickte, dünne Handschuhe.

Aus den Jacken leuchteten die hellbunten Brusttücher und auf den Kantelröcken die bunten Schürzen mit alten Muschel- oder Blumenmustern, bei der Schürze meist über Breite und Länge eine Einheit bildend. Die bunten Schürzenbänder wurden bei Mädchen und Jungfrauen an der Seite, bei verheirateten und fest vergebenen Frauen hinten zur Schleife, dem "Schörzenbuisch", gebunden. Durch die Vereinigung "Alt-Ruhla" wurde schon vor Jahrzehnten eingeführt, die Schürzenbänder vorne zu binden. Strümpfe waren keinesfalls immer weiß, sondern auch rot, grün, blau und als Zwickelstrümpfe farbig gemustert.
Unterkleidung waren: ein knielanges, kittelartiges, ziemlich weit ausgeschnittenes Trägerhemd (selten mit kurzen eingesetzten Ärmeln) aus Leinen, später auch aus Baumwolle, darauf ein weißer, dann ein zweiter, roter Unterrock, oben auf dem Hemd das weiße Leinenmieder, mundartlich "Mäder", mit kurzen Ärmeln oder als "Sträifelmäder" mit langen Ärmeln, die oft "hochgesträifelt" wurden. Für den Winter gab es auch Flanell- oder gestrickte Unterröcke. Das lange Unterhemd behielt man auch in der Nacht an. Darauf zog man, weil das Hemd ja oben weit ausgeschnitten war, eine vorne zu knöpfende, hüftlange Nachtjacke mit langen Ärmeln. Dazu gehörte eine weiße Nachthaube mit Bändern, die unter dem Kinn gebunden wurden. Unterhosen waren bis ins 19. Jahrhundert nicht bekannt. Die weißen, im Schritt nicht zusammengenähten Spitzenunterhosen kamen erst im Laufe der Biedermeierzeit zur Tracht, und da begann man auch, das Tragen von farbigen Unterröcken als unschicklich anzusehen.
Als Schmuck trugen Frauen und Mädchen den "Tauftaler" (Geschenk des Paten zur Taufe in Form einer Münze) an Halskettchen oder Samtband, eine Münzenkette oder die Ehefrauen der Handwerksmeister den "Mahlschatz". Das war eine aufwändig gestaltete, doppelte oder dreifache Halskette mit filigranen silbernen Rosetten bzw. anderen Schmuckelementen als Grundausstattung und einer oder zwei Silbermünzen.
Dieser, auch "Gehäng" genannte Schmuck wurde der Braut zur Verlobung vom Bräutigam vor die Füße gelegt. Mit dem Auf- und Annehmen unter Zeugen bekundete sie ihr Einverständnis und galt ein künftiger Ehevertrag als schon geschlossen. Daher kommt auch der Name, wortstammgleich mit Gemahl und Vermählung, von ahd. mahal = Vertrag. (Es müsste also eigentlich Mahalschatz heißen.) Mit der Zeit wurde der Schmuck durch Anreihung weiterer silberner Münzen ergänzt.
Ansteckschmuck gab es, wie Luise Gerbing in zahlreichen Befragungen festgestellt hat, zur Rühler Tracht nicht, also auch keine Broschen oder Spangen an den Brusttüchern, wie heute oft eigenmächtig hinzugefügt. Es störte nicht, wenn das Tuch zuweilen etwas auseinanderrutschte und der Busenansatz sichtbar war.
Zu erwähnen sind noch Kirchenmantel, Regentuch, dunkel gemustertes Umschlagtuch, Umhängemantel ("Schaollunn"), Hockmantel ("Keengermaantel").
Zur Beschreibung der Männertracht und ihrer Vielfältigkeit soll wie folgt zitiert werden: Ludwig Storch schrieb, dass lange blaue Leibröcke mit großen versilberten Metallknöpfen den Meistern und Werkstattbetreibern, kürzere blaue Jacken ihren Söhnen vorbehalten waren, es sonst meist graue, auch braune und grüne Jacken gab. "Die jungen Männer trugen werktags kurze lederne Hosen [also Kniebundhosen], deren Farbe einst gelb gewesen war, sonntags grün- oder braunmanchesterne, die älteren Männer schwarze Hosen". Westen und Stiefel erwähnte er nicht, aber "lange, wollene, farbige oder weiße Strümpfe".
ARNO SCHLOTHAUER teilte lt. Informationen mit, die er um 1900 von alten Gewährsleuten zur Männertracht erhalten hatte: "Bei Alt und Jung bestand die Sonntagskleidung aus grüner oder brauner Stoff- oder Manchester-, auch aus gelbbrauner Lederkniehose mit weißen oder grauen glatt gestrickten Strümpfen. Auch schwarze Samthosen hat es gegeben. [...] Ein Unterschied zwischen verheirateten und ledigen Mannsleuten war, daß erstere meist lange Leibröcke aus dunklerem Tuche und gestickte, dunkelfarbige Westen trugen. [...] Auch rote, blaue oder Ringelstrümpfe gehörten dazu." Seine Angaben zur Burschentracht entsprachen denen des Justinus Robus (s. o.). Zu den Kopfbedeckungen der Männer schrieb er: "Zum Kirchgang kam der nicht allzugroße Dreispitz zu Ehren, den sie nach ihrer Konfirmation als ‚Patenhut’ erhalten hatten. Die älteren Männer bevorzugten die gestickte, runde Kappe, den ‚Bartel’, oder eine Pelzmütze mit farbigem Stoffdeckel."
Zu den Westen, die auch oft weggelassen wurden, ist von Kantor BURKHARDT überliefert: "Bei den Burschen waren sie zuweilen hellrot, bei den Verheirateten aber dunkelfarbig und gestickt. Zur Verlobung wurden dem Bräutigam von der Braut der Gitterstoff für einen Westenstock und Stickgarn geschenkt, aber nicht ausgehändigt. In der Verlobungszeit stickte sie die Vorderteile und die fertige Weste wurde von ihm dann ab der Hochzeit zur Sonntagstracht getragen."

Zu den Männerhemden soll nochmals LUDWIG STORCH zitiert werden: "Arbeitshemdem waren aus ganz grober, nicht weißer Leinwand, hatten keinen Kragen und den Schlitz hinten. Feierabendhemden waren aus feinerer Leinwand, hatten ein Stehbündchen, den Schlitz vorne. Sie wurden mit einem bunten, vorne zu einem Knoten gebundenen Halstuch getragen. Feiertags¬hemden aus feiner Leinwand und mit dem Schlitz vorne hatten einen schmalen Umlegekragen, die Schulterpartien waren meist etwas gezogen. Unter dem Kragen wurde ein buntes, vorne gebundenes Tuch getragen."
Die beschriebene Tracht gehörte zum Leben der Rühler bis etwa 1830. Da begannen die meisten Männer, sie abzulegen und sich langen Hosen und anderen Jacken zuzuwenden. Die Frauen hielten noch länger an der Tracht fest. Nach Mitte der 1840er Jahre wurde aber von ihnen auch zunehmend die moderne Kleidung bevorzugt. Zur Konfirmation 1848 trugen die Mädchen letztmals einheitlich Kantelrock und Haitlappen. Zu Kirmes und Kirchenjubiläum 1861 gehörten viele Trachten nochmals zum Straßenbild. Danach blieben nur ältere Frauen noch gut zwei Jahrzehnte beim Haitlappen. Der Schriftsteller WILHELM RAABE beklagte sich um 1865: "… Wenn sie sie heute abgeschafft haben, ihre Kopfbinden aus jenen Zeiten, die heutigen Jungfrauen in der Ruhl - blau und silber und kirschrot und gold - so wußten sie nicht, was sie taten und waren sehr tötichte Jungfrauen …" Alexander Ziegler ließ 1867 zur Einweihung des ersten Carl-Alexander-Turmes und 1871 zum Empfang der heimkehrenden Kriegsteilnehmer die Tracht nochmals tragen und war auch anders bemüht, sie zu erhalten. Zu einer ersten Wiederbelebung in kleinerem Rahmen kam es dann 1892 auf Initiative des neuen und ersten hauptamtlichen Bürgermeisters Otto Lederer (eines Apolda¬ers). Im Auftrag der Gemeinde ließ er drei originalgetreue Trachten anfertigen und bewog den Gewerbe- und den Verschönerungsverein auch dazu. Diese neun Trachten wurden an Bürger ausgegeben, um von ihnen zur Kirmes getragen zu werden. Gleichzeitig rief man die Ruhlaer auf, noch vorhandene Trachten ebenfalls anzuziehen. So erreichte man, dass Trachtenpaare auf den Kirmesveranstaltungen der Gesellschaften zugegen waren und den Umzügen vorangingen, und das nicht nur 1892.
Zur Erhaltung und Pflege der alten Rühler Tracht kam es dann ab der Gründung der Vereinigung "Alt-Ruhla" im Jahre 1899. Das als Heimatfest gestaltete 250-jährige Jubiläum der Winkelkirche St. Concordia im Jahre 1911 gab weitere, länger nachwirkende Impulse dazu.
Nach der 1906 erfolgten Gründung des Ortsmuseums stellte die Trachtenfor¬scherin LUISE GERBING darin eine Präsentation zur Rühler Tracht zusammen, die viele Jahre lang gezeigt wurde. Außerdem gab es später eine Sammlung von über 20 kompletten Trachten, teils noch Originale, teils originalgetreue Nachbildungen von 1911 und 1934, die zur Kirmes und zu anderen Gelegenheiten auch ausgeliehen und getragen wurden. Leider sind heute nur noch ganz wenig Stücke davon vorhanden, mit denen aber doch, der Tradition verpflichtet, wieder eine Trachtenschau zusammengestellt werden müsste.

Abschließend soll noch darauf hingewiesen werden, dass unsere Tracht nicht, wie in letzter Zeit oft gesagt und geschrieben, "die Tracht der Folklore-Vereinigung Alt-Ruhla" ist, sondern, wie ihr Name sagt, eben die Ruhlaer oder die Rühler Tracht und nicht nur die Vereinigung, sondern ganz Ruhla repräsentiert. "Alt-Ruhla" hat es sich nur zur Aufgabe gemacht, und das seit nunmehr über 112 Jahren, diese schöne Tracht zu erhalten und zu pflegen sowie sie nicht nur in Thüringen zu zeigen. Schade ist es, dass es eine allgemeine Trachtentradition in Ruhla nicht mehr gibt. Und in diesem Zusammenhang muss die Frage erlaubt sein, warum sich der neue Ruhlaer Kirmesverein von der Rühler Tracht, außer bei den Dreieckshüten der Kirmesburschen, strikt distanziert. War die Tracht doch seit ihrer Wiederein¬führung erneut untrennbar mit der Rühler Kirmes verbunden. Ein entsprechendes diesbezügliches Umdenken wäre zum Zwecke der Erhaltung auch der Trachtentradition zu begrüßen und notwendig.


Quellen und relevante Literatur
Beiträge zur Geschichte Eisenachs XVIII, Chronik das Joh. Wilh. Trapp 1739 bis 1805, Eisenach 1908
Bindmann, Magdalena, Volkstrachten zwischen Rhön und Altenburger Land, Weimar 1993
Burckhardt, Joh. Heinrich Karl, Gedicht "Die allen Rühler" u. Aufzeichnungen
Colorierte Ansichtskarten aus der Zeit um 1900
Gerbing, Luise u. L. Köllner, Die Ruhlaer Tracht, Ruhla 1910 u. 2005
Gerbing, Luise, Die Thüringer Trachten, Erfurt 1925
von Hoff, Karl Ernst Adolf u. Christian Wilhelm Jacobs, Der Thüringer Wald besonders für Reisende geschildert, Gotha 1807
Köllner, Lotar, Zusammenstellung und Beschreibung der Elemente der Rühler Frauen- und Männertracht (Kartei)
Kreuch, Knut, Trachtenland Thüringen, Rudolstadt/Jena 1998
Mosch, Carl Friedrich u. Friedrich Carl Christian Ziller, Versuch einer Beschreibung der Sachsen-Gothaischen Lande, Gotha 1813
Raschke, Helga, Beitrag "Die Ruhlaer stellten mit ihrer Kleidung etwas dar", in: Gothaer Allgemeine vom 28. 8. 1999
Schlothauer, Arno, Was das Ruhlaer Ortsmuseum erzählt, Ruhla 1930
" Beitrag "Von der alten Rühler Kirmes", in: Heimat-Grüße, Beilage der Ruhlaer Zeitung, Jg. 1934
Storch, Ludwig, Erzählung "Der Fliegenschneider", Eisenach 1846
" Beitrag "Die Ruhl und die Rühler", in: Die Gartenlaube, Jg. 1856
Ziegler, Alexander, Das Thüringerwalddorf Ruhla und seine Umgebung, Dresden 1867


Auszug aus:
Lotar Köllner: Mi Ruhl, mi Heimet, 3. Band, Verlag "Ruhlaer Zeitung" 2013

Rühler Liebhabereien

Die Liebhabereien der alten Rühler

"Un Völen hiengk örr gaanze Herz,
besonnersch un d’n Fäinken.
In Frühjoihr, ungefeahr in März,
Giengk’s fort miet Brot unn Schäinken
unn Braantwien off de Fäinkenloack.

Au Blummen hatten se reacht gern,
Aurikel unn Narzissen,
unn kaouften au von grossen Herrn
munch Dotzed Nealkenschlissen.

Unn bie’s sealt miet d’n Fäinken woir,
so warrsch au miet d’n Tuwen.
Goir muncher hatt in gaanzen Joihr
un liewen Brot ze kluwen,
doch Tüwerchen, die mutt hea hao,
hea weer ju sust gestorwen,
unn bann hea’s au förr Auwen saoh,
daoss Frau unn Keeng verdorwen.

Unn Hünner worrn säit dear Ziet
in Dörfern ufgetruidelt.
Ea reachter schönner Gückelhuhn,
gaanz schwarz miet wissen Koppen,
woir munchen au gaanz armen Mun
vill liwwer bie ea Soppen.
Doch mutt’s ea reachter Bisser säi
miet langen schoirfen Spurren.
De annern mutt hea trat zu Bräi
bann se zesummenfurrn.

(aus "Die allen Rühler” von Kantor J.H.K. Burckhardt, um 1840)


Der Ruhlaer Dichter und Schriftsteller Ludwig Storch schrieb 1856 in der Familienzeitschrift "Die Gartenlaube" ebenfalls, dass die Rühlern eine besonders starke Vorliebe für Singvögel, Tauben, Hofhühner, Nelken und Aurikel hatten. Die Liebe zu den Tauben sei dabei bis ans Lächerliche gegangen. Bei den Singvögeln sei der Fink besonders bevorzugt gewesen.
Die wahrscheinlich älteste gedruckte Mitteilung über die Finkenliebhaberei der Rühler ist die vom Konsistorialrat J. G. Brückner in der "Beschreibung des Kirchen- und Schulenstaates im Herzogthum Gotha" (Gotha 1758/59): "Wer viel Fincken sehen und hören will, muß in die Ruhl kommen, weil die Rühler grosse Liebhaber davon sind, und mancher mehr als ein Dutzend dergleichen Vögel hat. Sie tribuieren [lehren] den Fincken mancherley Gesänge e. g. den Weingesang, Doppelgesang, Wirrgesang, das Gutjahr, den scharfen Gesang ,das Kühnöl, die Gerichtsgebühr, das Murmelthier etc."
Sicher hatten die Ruhlaer Schmiede damals schon den Fang der Buchfinken (Fringilla coelebs, s. Abb.), um diese han¬delt es sich hauptsächlich, seit längerer Zeit betrieben, um auch daheim den Liedern dieser munteren Sänger des Waldes lauschen zu können. Im Harz wurde die Vogelstellerei schon vor mehr als 1000 Jahren ausgeübt, denn eine überlieferte Erzählung berichtet von König Heinrich I., den man, als er zum König gewählt worden war und ihm das verkündet werden sollte, auf dem Vogelherd (Vogelfangplatz) mit dem Finkenfang beschäftigt antraf.


Seine Leidenschaft für die Finken trug ihm den Namen "Heinrich der Finkler" ein. Die Stelle, von der es im Gedicht heißt: "Herr Heinrich sitzt am Vogelherd, recht froh und wohlgemut…", damals (919) am bewaldeten Berghang gelegen, ist heute ein Platz in Quedlinburg und heißt noch der "Vogelherd". Aus dem 14. Jh. ist die Existenz des Vogelherdes eines Grafen von Schwarzburg überliefert. Anfangs war die Vogelstellerei hauptsächlich ein Vergnügen privilegierter Schichten.
Der alte Flurname "Fäinkensietz" (Finkenansitz) im Bermbachtal weist auch auf einen Finkenherd/Fangplatz, der dort war, als es in der Umgebung noch keine Wohnhäuser gab, und kann als Bestätigung des Buchfinkenfangs für Ruhla in einer Zeit früher als Brückners Mitteilung angesehen werden.
Ein ausführlicherer Beleg für das Alter von Buchfinkenfang und -haltung in Thüringen ist eine Handschrift in lateinischer Sprache aus dem Jahre 1433 in der Zeitzer Stiftsbibliothek, die, aus früheren Schriften zusammengestellt, in elf Abschnitten Anweisungen zur Pflege der Finken als Stubenvögel enthält (s. im Anhang).

Der Meininger Forstrat JOHANN MATTHÄUS BECHSTEIN hat die ins Deutsche übertragenen Regeln aus der Handschrift von 1433 in seine Veröffentlichung "Naturgeschichte der Stubenvögel" (1795) mit aufgenommen und kritisiert. In den weiteren Abschnitten des Buches geht es u. a. um das Wieder- bzw. Neulernen der Gesänge, um Nahrung, Krankheiten und Pflege der Finken.
Über Ruhla und die Finkenliebhaberei schrieb BECHSTEIN: "Ruhl ist ein Fabrikdorf im Thüringerwald, dessen Einwohner, meist Messerschmiede, so große Liebhaber der Finken sind, daß man nicht nur Beispiele weiß, daß sie von Ruhl aus an den Harz, also 16 Meilen weit, gegangen sind und einen guten Finken gestochen, sondern auch für einen guten Schläger eine Kuh hingegeben haben. Daher das Sprichwort in unsren Walddörfern nicht selten gehört wird: Der Fink ist eine Kuh werth. Noch immer kaufen arme Messerschmiede, die ums Taglohn arbeiten, einen Finken um 1 Louisd’or, und arbeiten lieber vierzehn Tage umsonst bey trockenem Brode. Ein rechter Ruhler Finkenliebhaber wird ganz entzückt, wenn man von einem guten Doppelschläger spricht; ich habe sie oft sagen hören, daß ein ächter Doppelschläger ordentlich mit einem schwatzen müsse, so deutlich müße er alle Silben aussprechen können. […] In der Ruhl werden also vorzüglich gute Finken aufgezogen. Außerdem hat man auf dem Thüringerwald noch in Schmalkalden, Tambach, Breitenbach und Steinbach gute Finken."
Durch die Veröffentlichung Bechsteins wurden die Rühler Finkler auch über den fachlichen Inhalt der Handschrift von 1433 informiert. Sicher werden sie selbst ähnliche Erkenntnisse gehabt haben.
Die Ruhlaer Finkenliebhaberei hatte im 18. Jh. einen solch guten Ruf, dass der letzte Eisenacher Herzog, der leutselige Wilhelm Heinrich ("Weelmhänner", reg. 1729 - 1741) mehrmals nach Ruhla kam, um sich mit guten Finken versorgen zu lassen und auch selbst, gemeinsam mit den Rühlern, dem Finkenfang nachzugehen. Auch Herzog Carl August kam zusammen mit J. W. v. Goethe des Öfteren, um gute Sänger zu hören und für seine Residenz, die Wartburg und den Sommersitz Schloss Wilhelmsthal zu erwerben. Letztgenanntes ist auch in dem Mundart-Theaterstück "Gestürt Kirmesenlost" angesprochen.
Die Autoren MOSCH und ZILLER stellten 1813 in ihrem "Versuch einer Beschreibung der Sachsen-Gothaischen Lande" fest: "Ausgezeichnet ist ihre [der Rühler] Liebhaberey für Blumen, vorzüglich Nelken, die man mit vielen Kosten, wiewohl jetzt weniger als sonst, aus fernen Ländern herbeyzieht. Größer noch ist ihre Leidenschaft für Singvögel, unter denen der Fink oben an steht. Nach Beschaffenheit seines Gesangs wird er oft sehr theuer bezahlt, ehedem ein guter Schläger mit 30 - 40 Rthlr.; aber neurer Zeit hat diese Liebhaberey abgenommen."
ALEXANDER ZIEGLER schrieb 1867: "Die Liebe zu den Blumen und zu den Singvögeln ist den Leuten in der Ruhl bis zur Stunde geblieben. Aus jedem Hause grüßen ein freundliches Gesicht, Blumenduft und Vogelsang. Der Abrichtung von Singvögeln, vormehmlich Finken liegt man noch jetzt fleißig ob und ein guter Finkenschlag steht noch immer in hohen Ehren. Insbeson¬dere wird der Doppelgesang und der Weingesang hoch geschätzt […] Je mehr und öfter der Finke die einzelnen Silben klar wiederholt, je mehr er ‚klimpert, wirbelt und trommelt’,desto besser ist er. Noch jetzt wird ein guter Finke mit 8-15 Thaler bezahlt."
Vom Autor des Buches "Die Ruhlaer Mundart", KARL REGEL, gibt es eine Schrift von 1875, veröffentlicht 1877, mit kritischen Äußerungen zur Hand¬schrift von 1433 und einer Zusammenfassung über den Finkenfang, die Finkenhaltung und -erziehung, die er "in Ruhla und Steinbach studiert" hat. Er bedauert den Verfall der Finkenliebhaberei und sieht bald ihr völliges Verschwinden kommen. Er macht aber auch darauf aufmerksam, dass durch ein Wegfangen der guten Schläger die Jungfinken im Wald weniger Schönes hören können und sich so schlechte Gesänge fortpflanzen. (Auszüge aus der Schrift siehe im Anhang)
Über die ausgedehnten Gänge der Rühler zum Fang der Finken schrieb Ludwig Storch u. a.: "Wenn im Frühjahr die Schneelager in den Bergen zum größern Teil weggetaut, und die Finken wieder ins Land gekommen waren, zur mageren Fastenzeit, da kochten die Rühler zum Feierabend Vogelleim und schnitten die kleinen Ruten, die mit dem klebrigen Leim beschmiert in der Leimscheide Platz fanden, flochten ‚Gärnchen’ und übten ‚Dußpfeifer’, und so ausgerüstet gingen sie auf die lustige ‚Fastenlock’, eines ihrer liebsten Vergnügen, wobei die tollsten Possen getrieben wurden. Im Spätsommer dagegen begaben sie sich auf die ‚Tränk- oder Feldlock’. In der Fastenlock wurde zumeist das Gärnchen zum Fang der Vögel angewandt, in der Feldlock die Leimruthe. Im Herbste, wenn die Finken zogen, stellten sie ihnen ‚Schneißen’. Der ‚Fastenfink’ war der mehr geschätzte und am blauen Schnabel erkenntlich.
Wie sie von der Esse oder vom Schraubstock kamen, rußig und luftig, so gingen sie auf und davon mit dem Dußpfeifer auf dem Rücken, mit dem Gärnchen, der Leimscheide, der Mehlwürmerschachtel, dem scharfen Schnitzer, Käse und Brot und der vollen Schnapsflasche im Querchsack, mit dem langen Blasrohr in der Hand und ein paar Pfennigen in der Tasche, und brachen unaufhaltsam in die noch kahlen Laubwälder durch Schnee und Wasser, lustig und guter Dinge, voll Schnurren und Schelmereien, ein ungewaschenes, ungezogenes Völkchen, dessen Narreteien und starke Faust überall gefürchtet wurden."
Storch berichtete weiter, dass sie jeweils früh, ehe noch der Tag graute, zusammen durch Dornsen- und Schlauchental hochzogen, "in den Hüscher¬chen" ihren Frühstücksbranntwein tranken, dann weiterzogen durch die Schwarzgraben-Halde, den Kissel hinab, über den Streifling, das Werratal querend, den Langenberg hinauf in die Buchen- und Eichenwälder bei Urnshausen, wo sie sich lagerten, Brot, Käs, Branntwein verzehrten und mit geübtem Ohr auf den Schlag der Finken horchten. Auf die besten Schläger wurden Dußpfeifer, Leimruten und Gärnchen mit Mehlwürmern ausgestellt. Der Fink, dem die Jagd galt, duldete in seinem Umkreis keinen anderen Schläger, flog auf den Dußpfeifer zu, um ihn auszubeißen. Dabei geriet er dann auf die Leimrute oder "ging ins Gärnchen".
Es war auch nichts Seltenes, dass die Rühler Vogelfänger mit herrschaftlichen Jägern oder Kreisern Händel bekamen, die bis zu heftigen Prügeleien führten. Auch bestäubten sie die Gesichter dieser oder anderer Gegner mit mitgebrachtem Essenstaub, Ruß und Hammerschlag oder beschmierten sie mit Vogelleim. Gerieten sie ins Hintertreffen, konnten sie laufen wie kaum andere. Meist aber waren sie die Sieger, schlugen die andern in die Flucht und gingen mit ihrem Fang fröhlich und zufrieden von dannen.
Weiter schrieb Storch: "Die Jäger oder Forstläufer aber, die sie ruhig in den Wäldern gewähren ließen oder sich gar mit ihnen befreundeten, fanden bald ein kurzweiliges Ergötzen an den oft wunderlichen Käuzen aus der Ruhl, und wenn sie mit ihnen fraternisierten, so gewannen sie gute und lustige Freunde an ihnen, die durch Possen und Schwänke, launige Erzählungen und Aufschneidereien den Nachmittag im Walde und den Abend im Wirtshaus wegscherzten, daß keiner wußte, wie die Zeit verstrichen war. […] So geschah es denn wohl auch, daß aus den erst bösen Feinden gute Freunde wurden, bei denen man Messer für den Haushalt kaufen und für Verwandte und Bekannte bestellen konnte, was wieder manchen Geschäftsgang der Rühler in diese Gegend veranlaßte, und aus dem Vogelfänger wurde ein Handelsmann, der mit seinem Kalbsfellranzen voll Messer auszog und mit schönem gutem Gelde heimkehrte. […]
Auf der "Tränk- und Feldlock" gings der Jahreszeit wegen noch munterer und lustiger zu, denn sie fiel Ende August, wenn die Ernte der Feldfrüchte vorüber war. Da wurden die Leimrutenstöcke an Quellgerinnen (Vogel¬tränken) oder auf geräumten Feldern aufgestellt. Man versah auch an Feldrändern stehende kleinere Bäume mit Leimruten. Die Vogelfänger lagen dann wartend im Grase oder auf anderen schattigen Plätzen oder suchten Heilkräuter, die sie, zusammen mit deren Eigenschaften und Anwendungen, gut kannten. Sonntägliche Fanggänge hatten das Gebiet um Fischbach, Cabarz und Tabarz zum Ziel und galten auch dem Dompfaffen, dem "Lüch".
Zum Finkenfang war der "Dußpfeifer", "Duißpfüffer" oder "Draußenpfei¬fer", also der Lockfink, nötig, ein als guter Schläger abgerichteter Fink, der im kleinsten Bauer, dem "Lockbauer", "Lockbuir", mit auf den Finkenfang, die "Fäinkenlock" genommen wurde und den zu fangenden Sänger anlockte. Der Lockfink im kleinen Bauer wurde auch "Unbeenger" genannt. Weiterhin waren Mehlwürmer und Beeren als Lockmittel nötig.

Die Fangmethoden waren:
- mit aufgespannten Zugnetzen auf dem "Finkenherd", einem 15 - 30 m² großen freien Platz, was aber von Ruhlaern bereits im 18. Jh. nicht mehr ausgeübt wurde
- mit dem Schlagnetz, dem "Gärnchen", einem zweiteiligen Netz mit Feder, das mittels Stellhölzchen gespannt wurde und bei Berührung dessen durch den Vogel zuschnappte.
- mit Fangschlingen in kleinen Gestellen, den "Schneißen" oder "Dohnen", an Zweigen aufgehängten Bögen oder Bügeln aus hölzernen Stäben mit Schlingen aus Lindenbast oder Pferdehaaren,
- mit Leimruten, "Liemroten", etwa fußlangen Stöckchen oder Reisern, die oben mit zähem Vogelleim bestrichen und mit den unteren Enden in eingeschnittene Kimmen des Leimrutenstockes, "Liemrotensteackens" eingeklemmt wurden. Der Stock wurde auf einem freien Platz im Gelände aufgestellt, die Vögel blieben an den Ruten hängen und fielen mit ihnen auf den Erdboden.
Chr. Suck schrieb im Ruhla-Führer von 1891, dass sich die Ruhlaer auch oft zweier Finken beim Fang bedienten, von denen der eine, der "Läufer", locker angebunden im Kreise um die Leimruten lief, während der andere, der "Duispfüffer" sich im verdeckten Bauer in der Nähe befand.
Leimruten wurden auch an Zweigen von Büschen über den mit Reisig verdeckten Lockbauer mit dem Dußpfeifer angebracht ("Lockbuisch").
Der Vogelleim, "Völsliem", wurde aus Leinöl und Fichtenharz oder Kolo¬phonium selbst gekocht oder aus den Früchten der Mistel gewonnen (Viscin) und in der "Liemscheiden", einem Ledertuch oder einer Ledertasche trans¬portiert.
Oft gehörte auch ein Blasrohr zur Ausrüstung der Finken-/Vogelfänger, aus dem mit ebenfalls selbst hergestellten Lehmkugeln geschossen werden konnte.

Klassifiziert und benannt wurden die Finken nach ihrem Gesang, der teils ein natürlicher, teils ein angelernter war. Es gab Messerbeschaler, Pfeifen¬beschläger, Drechsler, Kopfschneider, die den ganzen Tag über während ihrer Arbeit dem im Bauer über der Werkbank am Fenster hängenden Finken vorpfiffen, bis er ein Stückchen nach dem andern nachsang. Wenn die Arbeitsstätte nicht im Wohnhaus war, wurde der Fink auch im kleinen Bauer mitgenommen.
Die beliebtesten Schläge waren: der Weingesang, unterschieden in einfacher und guter, sowie der Doppelgesang. Bei diesem wurde zwischen dem künstlich erlernten Schmalkaldener Doppelgesang, den man nie im Walde hören konnte und der schon lange ausgestorben ist, und dem natürlichen Harzer Doppelgesang, auch Harzer Wirr genannt, unterschieden.
Die bekanntesten weiteren Schläge waren: der einfache Wirr, der grobe Wirr, das Kotschgewirr, das Hochzeitsgewirr, das Gutjahr, das Tollgutjahr, die Wittscheer, die Pottscheer, das Kienöl, das Quakkienöl, das Würzgebühr, das Richtsgebühr, das Wütjeh, das Zeterwütjeh, das Drehwütjeh, der Scharfe, der gleiche Scharfe, der Urnshäuser Scharfe, der Bräutigam, der Kauzjol, der Larzer (auch Farzer), der Reuzug (auch Reitzug), der Tannen¬wälder, der Fiedelmann, das Bockshorn, das Murmeltier, das wilde Geschrei, der Thüringerwald-Doppelschlag und der Rhön-Gesang.
Der beste Kenner von Finkenschlägen in Ruhla war der Pfeifenfabrikant Johannes König, Großvater des späteren Bürgermeisters und Geflügel¬züchters Paul König. Er kannte etwa 60 Schläge und konnte sie nachahmen. Andernorts soll es Experten gegeben haben, die 100 und mehr Schläge imitieren konnten. Mehr in die Rühler Geschichte eingegangen ist der Pfeifenbeschläger Justinus Robus (1786 - 1871), als Hähtines (nicht Höädines, s. S. 79) bekannt, Autorität auf dem Gebiet der Finkenhaltung und -erziehung. Oft wurde er als bester "Finkenzüchter" bezeichnet. In Ruhla ist jedoch, im Gegensatz zur Tauben- und Hühnerzucht, keine Finkenzucht betrieben worden. Finken wurden gefangen oder als Jungfinken aus dem Nest im Bauer gehalten und zu guten Schlägern erzogen. (J. Robus hat auch, wie ebenso der Beschläger Emil Stein Naturforschern und Schriftstellern Beiträge über Singvögel, Tauben, Hühner, Ruhlaer Besonderheiten und Sagen geliefert.)
Ein weiterer im 19. Jh. oft genannter Rühler Finkenkenner war "Staohljörr".
Die Prophezeiung Professor KARL REGELS von 1875/77, dass die Finken¬haltung und -erziehung in Ruhla in kurzer Zeit zum völligen Erliegen käme, hat sich nicht bestätigt. In den 1930er Jahren, also 60 Jahre später, gab es noch mehr als 15 Finkenliebhaber, meist jedoch ältere Männer in den 60er bis 80er Jahren. Sicher haben sie ihre Finken noch selbst gefangen. Zur Zeit der Schaffung des Ortsmuseums waren in mehreren Familien noch Fangutensilien vorhanden. Sogar um 1950 war der Finkenfang in Ruhla noch nicht ganz ausgestorben. Heute, fast 140 Jahre nach Regels Prognose, ist der absolute Niedergang der Finkenliebhaberei in Ruhla aber nun vollzogen.
Finken und andere Singvögel wurden noch bis ins 20. Jh. auch eigens für den Verkauf gefangen und zum Singen erzogen, wahrscheinlich auch in Ruhla. Vogelhändler aus Erfurt oder Leipzig holten sie ab und verkauften sie bis nach Holland, meist für das Zehnfache von dem, was sie den Fängern und "Lehrern" gegeben hatten.
Ende des 19. Jahrhunderts wurden massiv Stimmen laut gegen Vogelfang und -handel. 1897 schrieb u. a. die "Thüringer Dorfzeitung", dass dieser auf dem Thüringer Walde riesige Ausdehnung genommen hat und die Offerten in der "Geflügelbörse" mit Schrecken zu lesen sind. Ein Herr aus Steinach bot z. B. an: "Buchfinken, Dtzd. 5 Mk., rote Hänflinge, Dtzd. 9 Mk., Stieglitze, Dtzd. 12 Mk., Feldlerchen, Dtzd. 6 Mk., Schwarzdrosseln, Buntdrosseln, Stück 3 Mk., bei Abnahme von 100 Stück billiger". Ein Gärtnereibesitzer zu Sonne¬berg, offerierte: "Zeisige, Buchfinken, Goldammern, Grünfinken, Meisen, Rotkehlchen, Schwarzplatten, Singdrossen, Amseln zu 1 - 5 Mk. das Stück." Es wurden Verordnungen gefordert, "diesem gräßlichen Unfug ein Ende zu machen!" Mit dem Erlass von Vogelschutzbestimmungen um die Wende zum 20. Jh. entwickelte sich die wissenschaftliche Erforschung der Vogelwelt, die Ornithologie. Der Vogelfang wurde eingedämmt bzw. verboten.
Von Finken-Preissingen wie im Harz, dort bis in die jüngste Vergangenheit groß aufgezogen und Finken-Manöver genannt, ist in Ruhla und Steinbach nichts überliefert. Getroffen hat man sich nur unter Nachbarn, die einzelnen Schläge "verhört" und sie gegenseitig beurteilt.
Über das mögliche Alter eines Buchfinken soll noch gesagt werden, dass es nach Beobachtungen von Fachleuten in den Vogelwarten und anderen Personen in der freien Natur mit 10 bis 15 Jahren angegeben wird. In Gefangenschaft ist das Durchschnittsalter nicht niedriger, im Gegenteil, es sind schon Stubenfinken von 20 bis 25 Jahren und darüber festgestellt worden. Gefüttert haben die Ruhlaer Finkler ihre Sänger mit Rüb- und Mohnsamen, in Wasser oder Milch eingeweichten kleinen Semmelstückchen, Mehlwürmern oder Ameiseneiern, Apfelstückchen, geschabter Möhre, Vogelmiere, Brun¬nenkresse, kleinen Salatblättern.
Gefangen und in entsprechenden Bauern in den Wohnstuben als Sänger gehalten wurden in Ruhla nicht nur Buchfinken, sondern auch Rotkehlchen ("Kahlerötchen"), Mönchsgrasmücken (Schwarzplättchen, "Plattemüncher"), Grasmücken ("Schotebisser"), Kohl- und Blaumeisen, Zeißige ("Zisserchen"), Hänflinge ("Hämferleeng"), Stieglitze ("Stileetzen") und Nachtigallen.


Rotkehlchen wurden im Doppelbauer gehalten, d. h. ein Bauer hing in einer oberen Ecke der Wohnstube vor einem Wandloch, durch das der Vogel in das außen an der Fassade angebrachte Bauer und zurück gelangen konnte. Im Winter wurde das Wandloch verschlossen. Das Türchen des Stubenkäfigs wurde beim Rotkehlchen oft geöffnet, und es konnte in der Stube umherfliegen (s. dazu das "Schnorrpfüffen"-Gedicht "D’s Kahlerötchen). In der Alt-Rühler Wohnstube im Ortsmuseum ist ein solches Bauer zu sehen. Leider wurde das Außenbauer in völliger Verkennung seiner Funktion abgenommen und über den Signalgeber der Haus-Sicherungs-Anlage gestülpt. Bei einer zur 400-jährigen Existenz des Hauses vorgeschlagenen Fassadenerneuerung wird es hoffentlich wieder an seinen Platz gehängt.


Hänfling, Stieglitz und Zeißig waren als "Hirtengesteckchen" in einem dreistöckigen Bauer, jeder aber für sich, untergebracht, damit sie zusammen das "Thüringer-Wald-Konzert" singen konnten. Für die Finken gab es Bauer in verschiedenen Größen.
Nun sollen die bekanntesten und beliebtesten Schläge noch in Lautmalerei wiedergegeben und teilweise beschrieben werden.
Der "Wiengesaangk" hat drei Teile, das "Kruis", "Ruffen", "Tacken", und lautet: "Sisisi-tschöptschöptschöp-taktaktak-wi-o-beer". Die letzten drei Silben klingen bei flüchtigem Hinhören wie "Wienbeer", daher der Name.
Der "schoirf Wiengesaangk" klang: Zizizi-püllüllül-lottjottjott-jo-wien-beer".
Der "Hoirzer Doppelgesaangk", auch "Hoirzer Wirr", hat ebenfalls drei Teile, das Geklimper, den Wirbel, die Trommel und lautet: "Zizizi-zürozia-bobobob-häör-zer-wirr". Die mit Nachdruck gesungenen drei letzten Silben gaben dem Schlag den Namen.
Der "Hoirzer Doppelschlaogk miet Kunsttriller" lautet: "Zizizi-jajaja-bobobo-rrr-iiii-zeeer"
ä

Der "Gutjoihrschgesaangk" lautet: "Ziakziakziak-jöttjöttjött-fierfierfier-’s-gut-joihr". Namensgeber waren wieder die letzten drei Silben.
"D’s toll Gutjoihr" lautet: "Tititi-tototot-ziawatja- ’s gut joihr".
Der "Urnshüsser Schoirf", auch "Rädeltier" lautet: "Sisiksiksak-sa-woid-schier", manchmal die letzten Silben wie "…rä-de-tier".
der "Reuzug" oder "Reitzug": "Titititoto-’s-rei-zio",
das "Kienöl": "Ratsch-ratsch-ratsch kien-öl",
das "Quakkienöl": "Ziöziö-quakquak-kien-öl",
das "weell Geschräi": "Wiwiwi-jajaja-die-bä",
das "Richtsgebühr" oder der "Rhöngesaangk": "Zwickzwickzweria- jajaja-paraduzia-ge-bür",
der "Thüringerwaald-Doppelschlaogk": "Zizeri-zizeri-zerösia-jajaja-
schar-bar-zir-zet".
Der "Schmalkaldener Doppelschlag" lautete: "Zinkzinkzink-rötata-bobobo-ti-ze-ge-wirr".
Weitere Schläge waren (sind?):
"d’r gro [grobe] Wirr": "Zizizi-schar-nir-wirr",
"d’s Kotschgewirr": "Zizizi-tototo-kotsch-ge-wirr",
"de Wittscheer": "Tititi-tototo-witt-scheer",
"de Pottscheer" (Putzschere): "Dickes-dickes-weelle-miet-off-pott-pek-gäh",
"d’r Fidelmun": "Pinkpinkpink-zieweit-zieweit-sitz-nicht-da-sitz-nicht- da- zie-zie-weit",
"d’r Farzer": "Tititi- ti-dörr".
Das "Würzgebühr", das "Wütjeh", das "Zeterwütjeh", das "Dräwütjeh", das "Kauziol" sind kleinere Gesänge, die ihre Bezeichnungen ebenfalls von den zwei oder drei Endsilben haben.
(zusammengestellt nach Angaben von Arno Schlothauer)


D’r blao Muntich odder D’r Rühler Fäinkenfaangk

Mäi hunn ea fix unn au weell Blut,
goir ze ean lichten Seenn.
Ömhear mäi reennen ohne Hut,
vergeassen Frau unn Keeng,
d’n Duißpfüffer in d’r reachten Haand,
de Liemscheid in d’r läinken
duirchzinn mäi wiet ömhear daos Laand
naoch Kahleröterchen unn Fäinken.

D’n Unbeenger in d’r Schleeppen,
das Gärnchen önger d’r Jacken
bloßhaitich unn in Söäcken,
de Pfüffen in d’n Rachen
duirchsträifen mäi Beargk unn Taol
von d’r Werr bis hin z’r Saol.
Unn hörrn mäi Gutjoihrschfäinken,
vergeassen mäi Eassen unn Träinken.

In Summer äh de Sonn kömmt ruis,
dao säin mäi off d’n Ströümpfen.
Naoch allen Völ’n luss’n me uis
in Weallern unn in Söümpfen.
De Drussel kriet ean Schnapp heenger de Orrn,
wörd geropft unn giet ean Fraoß.
Au d’r Zuinkünnegk bliet neett ungeschorrn,
unn söllt’n mäi ’n fang uss Spaoß.

(Finklerlied aus der Zeit um 1800,
Verfasser und Singweise unbekannt)


Von Rühler Finkenliebhabern erzählte man sich: Einer tauschte seine gute Milchkuh gegen einen seltenen Schläger. Ein anderer verkaufte sein Häuschen, um nach Befriedigung des Hypothekengläubigers für den Rest einen längst sehnlich begehrten Finken erstehen zu können. Ein "Temmerscher" verlor seinen für ihn nicht schlecht stehenden Erbschaftsprozess, weil er auf dem Weg ins Amt Tenneberg bei Langenhain einen "Meisterfinken" hörte und ihn verfolgte bis der Termin verstrichen war. Er verschmerzte den Verlust, nachdem er den "Gutjoihrschläger" gefangen hatte und zu Hause haben konnte. "Gänsgrossenhans", ein Hans Stehmann, hatte einen prächtig schlagenden Finken erzogen, für den ihm der Pfarrer mehrmals mehrere Taler und schließlich eine seiner Kühe bot. Hans lehnte ab: "Prostemaohlziet, Herr Pfarr, ean Fäinken kun ich erneehr, ea Kuh neett, förr ean Fäinken hun ich ean Buir, förr ea Kuh neett." Der alte "Hähtines" war jedes Mal, wenn einer seiner kleinen Sänger schwer von Begriff war und "säöute", so verärgert und verzweifelt, dass er sich ins Bett legen musste. "Stahljörr", den wegen großer Armut oft der Hunger plagte, war auf ein Zubrot durch Grashauen angewiesen, vergaß aber einmal einen großen Auftrag, den in Aussicht gestellten Lohn, das gute Frühstück und Mittagessen, weil er auf dem Weg zu den Wiesen einen Finken mit besonderem Schlag gehört hatte und verfolgte. Hollenkristeln war die Frau gestorben. Während der Grabpredigt des Pfarrers hörte er einen wahrscheinlich erst zugeflogenen Finken mit prächtigem Schlag in der Pfarrhecke. Kaum war das letzte Amen gesprochen, rannte er fort, holte Dußpfeifer und Leimruten, um den Sänger zu fangen, was auch gelang. Als die Trauergesellschaft schon beim "Lichenkaffä" saß, kam der eigentlich Hauptleidtragende zurück und zeigte mit Freude den gefangenen Schläger im Bauer. Da rief der Bruder und ließ den Blick zwischen dem Finken und seiner Frau hin und her schweifen: "Kristel, Kerl, dou häst ju mähn Glöck bie Verstaand!" Ein jüngerer Rühler heiratete einmal eine ältere Steinbacher Witwe, die schon "reacht verschroumpelt und zänkisch" gewesen sein soll, nur weil sie von ihrem ersten Mann einen Finken "mit über alle Maßen schönem Schmalkalder Doppelschlag" geerbt hatte. Ein anderer Rühler ist bis in einen Wald bei Königsberg in Ostpreußen gelaufen, um einen ganz besonderen Finken zu fangen, den ein Handelsmann dort gehört hatte. Mit dem Finken wieder zu Hause, war er bettelarm geworden und in große Schulden geraten. Ein weiterer Rühler besuchte einige Male einen anderen, der einen ausgezeichneten Schläger besaß, und hatte jedesmal seinen Finken unter einer hohen Mütze, die er nicht abnahm, damit dieser den Gesang des Nachbarfinken versteckt lernen konnte. Einem Rühler war es nicht gelungen, erstklassige Doppelschläger zu erziehen. Darüber soll er den Verstand verloren haben und im Irrenhaus geendet sein.
Die älteste gedruckte Mitteilung über die Blumenliebhaberei der alten Rühler ist wieder in J. G. BRÜCKNERS "Beschreibung des Kirchen- und Schulenstaates im Herzogthum Gotha" von 1758/59 zu finden: "Wie die Rühler Liebhaber von Fincken, so sind sie es auch von Blumen. Absonderlich haben sich verschiedene derselben in die Nelcken so verliebt, daß sie die schönsten und raresten Gattungen zusammengebracht. Die Ruhl hat sich mit der Nelcken-Flor so considerabel gemacht, daß auswärtige Blumenverehrer aus denen um-liegenden Städten und Dörffern ihre jährliche Wallfahrt zu dem Ende hieher zu thun pflegen. Diesen Herbst hat ein einziger Rühler Blumiste auf 5 thlr von Ablegern gelöst, die er an Auswärtige überlassen."
Bekannt ist auch aus der ersten Hälfte des 18. Jh., dass Ruhlaer Messer- und Eisenwarenhändler Nelken- und Aurikelsamen, besonders aus Franken, mitbrachten. In der Familienchronik Dreiß steht, dass der Messerschmied und Nelkenzüchter Jacob Kleinsteiber, genannt der "schwarze Jacob" (im Mund¬arttheaterstück "Die Rühler Lüter" ist ihm als handelnde Person ein Denkmal gesetzt), um 1760 "in Pantoffeln" nach Bamberg gelaufen ist, um neuen Nel¬kensamen zu holen. Bei dieser Gelegenheit hat er auch die ersten Kartoffeln mitgebracht und diese hier eingeführt.
Die Autoren V. HOFF und JACOBS sowie MOSCH und ZILLER nennen 1807 bzw. 1813 die Blumen- besonders Nelkenzucht an zweiter Stelle der Ruhlaer Liebhabereien. CARL HERZOG erzählt 1832 in seinem "Taschenbuch für Reisende durch den Thüringer Wald", dass er bei manchem Ruhlaer Handwerker, "obwohl die Zucht schon nicht mehr auf einstiger Höhe, 200 bis 300 Aesche [Blumentöpfe] mit Nelken angetroffen" habe und er hätte selbst für manchen Senker einen Taler bezahlt.
Der anfangs dieses Abschnitts schon zitierte KANTOR BURCKHARDT schrieb 1840 in seinem Gedicht "Die allen Rühler" weiter:

Bie groß de Lieb ze Nealken ies,
au hütt nooch ea gross Nummer,
d’rvoon gaob üch ean schönn Bewies
ea Mun in vür’chten Summer.
Ea preachtich Nealken zoogk hea sich
miet grosser Müh uss Sumen
unn freit sich drun gaanz künnegklich,
rief allen zu, die kumen:
‚Nun lass mich, Herr, in Frieden ruh’n.
Was kann mir hier noch werden?
Denn meine Augen sahen nun
die schönste Blum’ auf Erden.’
LUDWIG STORCH schrieb 1856: "Vor den Fenstern der Häuser waren die grünen Blumenbrete befestigt und mit Scherbengewächsen dicht besetzt. An das Haus grenzte das freundliche Blumengärtchen. Hier und dort war der prächtige Nelken- und Aurikelflor zu schauen. Die Narzisse, die Glocken¬blume, die Kaiserkrone, die Tulpe, die weiße, die Schwert- und die Feuerlilie, das Gartenhähnchen (Eberraute), Pfeffer- und Krausemünze waren die vor¬züglichsten Ziergewächse ihrer Gärten; in den Töpfen hielten sie das Aschenkraut, das starkduftende Katzenkraut, den Rosmarin, den Lack, die Winterlevkoie. Ihre Leidenschaft für ausgezeichnete Nelken erinnert an die Tulpenliebhaberei der Holländer. Kenner fanden bei einfachen Handwerkern in der Ruhl so seltene, kostbare und ausgezeichnete Nelkenblumen, wie fast in der ganzen Welt nicht weiter. Auch die Nelken hatten ihre Nomenclatur."

Der entsprechende Vers im "Kotschgewirr" lautet:

Baos humme in d’r Ruhl? …
Unn bie de Fäinken in d’n Buir
So humme au nooch Nealkenfluir.
Aurickel, Lack unn Rosmarin
unn Moirmien humme owendrien.
Daos humme in d’r Ruhl.

Die vorzüglichsten Nelken in der Ruhl waren lt. A. Ziegler (1867): die von auswärts eingeführten Kapellmeister Gluck, gelber Feuerfox, Mozart, Bizard mit roten Zeichen und weißem Boden, Napoleon, gelber Bizard, General Winterfeld, holländische Doublette mit violettem Zeichen, Braut von Messina, wohlriechender Bigott, Pluto und die heimischen Züchtungen Rühler Kirmes, Superbe de Ruhla, Organist Lux (ein silbergrauer Bigott), Doktor Storch (nach dem Vater Ludwig Storchs genannt, eine Doublette mit weißem Boden und breiten roten Streifen), Schöne Elefantine, Perle von Eisenach.

Die Nelke in der Ruhl
(etwa 1800, Verfasser unbekannt)

Ich liebe mir die Nelke,
sie blühe oder welke,
so bleibt sie mir vertraut.
Ich scheue keine Mühe,
am Tage spät und frühe
wird sie von mir gebaut.
Ihr, die ihr sie verkennet,
was die Natur uns gönnet
in dieser Blume Flor,
bleibt ferne mir vom Leibe,
lasst mir zum Zeitvertreibe
das schöne Nelkenchor.

Hier will ich Gott verehren
und meine Grillen wehren
viel besser als beim Wein.
Das Spiel kann ich verlachen
und andere tausend Sachen
und doch zufrieden sein.

Auch die Aurikel wurden sehr sorgsam gepflegt und Samen dazu aus der Schweiz usw. bezogen, um mit dem hiesigen vermischt zu werden. So hieß eine Aurikel "Der Schmied von Ruhla", eine andere "Ludwig der Eiserne", weil sie von Zimmermann an der Stelle gezüchtet worden waren, die man als Standort der Hütte des Schmiedes von Ruhla annahm. ALEXANDER ZIEGLER gab dazu noch an: "Auf dem Tenneberger Boden, ganz oben nahe beim Forsthause, lebte ein bekannter Aurikelzüchter, den ich noch 1862 gesprochen. Dieser kleine alte Mann, ‚d’s leatzt Äödchen’ genannt [Adam, der als Letzter ganz oben wohnte], war wegen seiner ‚hellblauen Aurikel so groß wie ein Achtgroschenstück’ bekannt."
Einen kleinen oder auch etwas größeren Hausgarten hatte eigentlich jeder Rühler Handwerker vor, neben oder hinter seinem Haus für die Nelken und Aurikel sowie die anderen von L. Storch genannten Pflanzen (s. o.). Es fehlten darin auch nicht verschiedene Küchen-, Gewürz-, und Heilkräuter für den Bedarf im Haushalt. Ebenso gehörten sog. "Riechkräuter" dazu. Sie wurden von der Hausfrau für den Kirchenstrauß genutzt, den sie beim Kirchgang auf dem Gesangbuch trug. Er schützte sie mit dem aufsteigenden Duft davor, unter der Predigt einzuschlafen. An Gemüsepflanzen gab es "Blaokohl" (Grünkohl) und Lauch in jedem Garten. Bis ins 18. Jh. pflanzte man auch den Zaunhopfen an, der an Hauswänden oder anderen geschützten Stellen gedieh. Oft trafen sich die alten Rühler, um gegenseitig den Nelken-, Aurikel- und anderen Blumenflor in den Gärten, in Blumenkästen und Töpfen zu beschauen und zu beurteilen.
Als die Nelkenzucht in Ruhla um 1800 ihren Höhepunkt erreicht hatte, wurden "für ein Dutzend Absenker der beliebtesten und besten Sorten ein bis drei Friedrichsd’or bezahlt" (ein F. = 17 Mk.). Im Jahre 1853 empfahl Organist Lux dagegen im "Ruhlaer Wochenblatt" seine "Nelkenpflanzen für vier gute Groschen das Dutzend".
Parallel mit dem Anwachsen der Metallindustrie in Ruhla ging ab Ende der 1860er Jahre die Blumenzucht und -liebhaberei stetig zurück. Die Rühler arbeiteten nun zunehmend in Fabrikräumen, und das täglich 10 bis 12 Stunden, nur am Sonnabend etwas weniger, allein am Sonntag konnten sie durchgehend zu Hause sein und sich Liebhabereien länger widmen. ALEXANDER ZIEGLER resümierte 1874: "Die alten, eifrigsten Blumisten und Floristen Ruhlas, wie Kantor Georg Heinrich Lux, der Letzte, der Nelken noch aus Samen zog, Kaspar Steinmetz, Carl August Zimmermann, A. Schlothauer, B. W. Köllner u. a. sind verstorben. Die Zucht der Nelken und Aurikel wird jetzt in der Ruhl bei der immer stärker hervortretenden materia¬listischen Richtung der Zeit nicht mehr so eifrig betrieben als früher. Sie befindet sich in ständiger Abnahme."
Gleich nach 1900 war sie fast völlig verschwunden. Die alten Ruhlaer Nelken und Aurikel waren kaum noch bekannt. In den Jahren 1934/35 wurden Vorschläge gemacht, gemeinsam mit dem rührigen Obst- und Gartenbau¬verein die alte Blumenliebhaberei wieder irgenwie zu beleben. Ergebnisse waren lediglich einige Blumenkästen an wenigen Häusern und eine Dahlienschau des Vereins.
Auch zur Nelkenliebhaberei gibt es eine Episode: Nelkenzüchter Zimmer¬mann bemerkte beim Feilenhauer Schlothauer auf dem "Temmerschen Boden" eine besonders schöne Nelke "Grenoble", die er allein zu besitzen meinte. Er wünschte sie zu kaufen, um Alleinbesitzer dieser Sorte zu bleiben. Schlothauer wollte sie jedoch nicht hergeben, bis Zimmermann 4 Kronentaler (etwa 18 Mk.) bot. Kaum die Nelke erhalten zerschnitt er sie mit seinem Federmesser. Da ging der Feilenhauer hinaus und holte eine zweite, noch schönere "Grenoble". Z. bot nun 5, 6, 8 Kronentaler dafür, aber vergeblich, er erhielt sie nicht, obwohl Schlothauer das Geld sehr nötig hätte brauchen können. So weit gingen damals Liebhaberei und Ehrgeiz der alten Rühler Nelkenzüchter.


Der Liebe der alten Rühler zur Finkenhaltung und Blumenzucht standen Haltung und Zucht von Tauben mit gleicher Bedeutung zur Seite. Schon im 17. Jh. sind Tauben gehalten worden, was aus Aufzeichnungen über Verhand¬lungen hervorgeht, die zu Beschwerden über von Tauben angerichtete Schäden geführt worden sind. Folge war das in die Dorfordnungen von 1652 der drei Ruhlaer Gemeinden aufgenommene Verbot der Taubenhaltung. Der letzte Punkt in der Dorfordnung für Ruhla Eisenachr Orts lautet:
"§ 106, Dieweilen auch ein grosser Mißbrauch vermerkt, daß viel von der Gemeinde sich unterstehen, ihren Nachbaren zum Schaden sowohl zuhauße alß im Felde Tauben zu haben, alß sol solches gäntzlich verbotten und niemand auch den Müllern nicht deren ferner zu halten vergönnet seyn."
Ob sich die Rühler daran gehalten haben, ist fraglich, ebenso, ob bei Verstößen streng geahndet wurde. Das Problem der Schadensverursachung durch Tauben war offensichtlich 50 Jahre später noch nicht gelöst. Auch in den Rezess von 1702 zwischen beiden Herzögen (s. Heimatbuch, Bd. 1, S. 121) wurde wieder ein Verbot der Taubenhaltung aufgenommen:
"Es war gut befunden worden, daß man künftighin in der Ruhl aller dreyer Orte, in denen sehr wenig Feldwirtschaft vorhanden ist und man sich gerechtermaßen nach der Landesordnung hierin zu richten hat, zur Vermeidung allerhand Ungelegenheiten, besonders aber wegen der Feuersgefahr, so durch Hinwegschießung der Tauben auf den Strohdächern zu besorgen, keine Tauben zu halten verstattet seyn soll."
35 Jahre später muss die Situation anders gewesen sein, denn der schon als Finkenliebhaber erwähnte Herzog Wilhelm Heinrich ließ sich von den Ruhlaern auch Tauben bringen. 1758 erfährt man vom oben schon zitierten J. G. BRÜCKNER: "Viele halten auch Tauben, welche gleichergestalt nicht von gemeiner Art seyn dürfen." Die Zahl der Halter und Züchter besonderer Tauben nahm bis 1800 ständig zu. Taubenzucht gehörte für viele schon zu ihrem Lebensinhalt.
Aus der Zeit nach 1800 sind wieder Klagen, besonders aus Kittelsthal, über Schäden bekannt, die durch Ruhlaer Tauben angerichtet wurden. Die Ruhlaer Taubenhalter störte es aber wenig, sie konnten auch Klagen abweisen und trugen, gewissermaßen als Reaktion darauf, ihre Tauben sogar auf Kittels¬thaler Felder. Darüber und über die Rühler Taubennarren schrieb KANTOR BURCKHARDT in seinem Gedicht "Die allen Rühler" von 1840 (s. Broschüre "All Rühler Oirt" von 2002).
1856 schrieb LUDWIG STORCH: "Die beliebtesten Tauben waren ‚Schwarz¬köäpf, Wissköäpf (rothe, braune, blaue und gelbe), Rothköäpf, Kaohlköäpf’, Weißeulige, Schwarzeulige, Silbereulige, Lacheulige, Grunzeulige, Gelblich¬stöpfliche, Weißlichstöpfliche, Gräulichstöpfliche, Grundstöpfliche, Gelbgrund¬stöpfliche, Lerchenstöpfliche, Silberfarbige, Hammergraue, Rothmalige, Grunzfarbige, Schnürige, Schwarzmauser, Schwalbenschecken, Schwalben¬schwänz’, Weißmalige, Schwarzstriemige, Silber-, Roth-, Braun-, Blau-, Gelb- und Weißbrüster. Es ist unmöglich, durch bloße Beschreibung die Zeich-nungen der Tauben auch nur entfernt anschaulich zu machen; genug, sie waren eben so mannigfach wie die Farbenmischungen und es war ein beliebtes, obwohl sehr unsicheres Studium der Taubenzüchter, Farben und Zeichnungen durch eigenthümliche Beimischung zur Nahrung der Tauben hervorzubringen, und fast Jeder hatte in dieser Beziehung sein Geheimniß. Die ‚Grunzeuligen’ waren dem Rühler Geschmack nach die schönsten Tau¬ben, die ‚Schwarzeuligen’ die seltensten und theuersten. Es wurde ein nicht uerheblicher Handel mit diesen Luxustauben getrieben, und nicht wenige arbeiteten mehr für ihren Taubenschlag als für ihren Haushalt. Die ächten Taubenmänner warteten niemals den Feierabend ab, um mit dem langen Blasrohr den Tauben nachzulaufen. Sie ließen gar oft die Arbeit ganz im Stich. […] Solch ein Schießgewehr war ein höchst wichtiges und eben nicht billiges Möbel in jedem Hause. Die theuersten und besten waren inwendig mit Maul¬wurfsfellchen gefüttert und es wurde mit ungebrannten, in eisernen Formen selbst gefertigten Tonkugeln daraus geschossen."
Anfang des 19. Jh. ist wahrscheinlich auch das hier bekannte Taubenlied entstanden, ob in Ruhla, kann nicht gesagt werden. (Es gibt übrigens im deutschsprachigen Raum noch mehr Taubenlieder.) Die Melodie wurde 1907 vom Ruhlaer Musikdirektor Berthold Stehmann für die Verwendung im Mundart-Theaterstück "Dear Rühler Kirchenstriet" nach einer alten Volksweise neu gesetzt.

Morgens früh um halber achte
steh ich aus mei’m Bettchen auf,
seh, was meine Tauben machen,
ob sie schlafen oder wachen,
ob sie noch am Leben,
ob sie noch am Leben,
noch am Leben sei’n.

Wenn nun kommt die Mittagsstunde,
fliegen sie der Nahrung nach.
Ach, wie wird mir angst und wehe,
wenn ich keine Tauben sehe,
wenn ich keine Tauben,
wenn ich keine Tauben,
keine Tauben sehe.

Abends spät, da komm’n sie wieder,
Fremde hab’n sie mitgebracht,
kehren wieder bei mir ein,
dass sie möchten sicher sein,
dass sie möchten sicher,
dass sie möchten sicher
vor dem Schusse sein.

Der Tauben- und Hühnerzucht widmete Storch ebenfalls einen Vers im "Kotschgewirr":

Baos humme in d’r Ruhl? …
Au hätt nooch jeder Hamberschmun
si Tuwen, Hünner, Gückelhuhn,
unn hätt si Fröä drun alleriet,
bann hea se so zesummen sieht.
Daos humme in d’r Ruhl.

Auch ALEXANDER ZIEGLER behandelte 1867 und 1874 im Ruhla-Führer die Taubenliebhaberei, stellte fest, dass sie "noch heutigen Tages bei den Ruh¬laern stark ist" und gab die wichtigsten der schon von Storch genannten Arten wie Weißköpfe, Grunzfarbige, Eulige, Schwarzeulige, Schnürige, Schwarzmäuser, Gelb-, Schwarz-, Rot-, Braun- und Blaubrüster, Lerchen¬stöpfliche, Schwalbenschwänze nochmals an.
AUGUST BECK ging in seiner Ortsbeschreibung 1875/76 (s. Lit.) auch auf die Blumen- und Taubenzucht als Besonderheit der Ruhlaer ein.
Schon zu dieser Zeit wurde die heute noch bekannte Episode von der "fliegenden Drehbank" erzählt: Mädersch Louis, ein Ruhlaer Drechsler, der ein großer Taubenliebhaber war, hatte mehrere schöne und wertvolle Tauben dadurch gewonnen, dass er seine Drechslerwerkbank bzw. Drehbank dafür hingegeben hatte. Als eines Tages die sorgfältig unter Verschluss gehaltenen Tauben durch irgendeinen Zufall in’s Freie gelangt waren und der Besitzer sie davonfliegen sah, hat er untröstlich ausgerufen: "Dao flüt mi Drähbaank hin!"
Die alte Tradition der Taubenliebhaberei ist dann durch den im Jahre 1880 gegründeten Ruhlaer Geflügelzuchtverein (s. S. 185f), dem sich die Tauben¬züchter anschlossen, noch für Jahrzehnte bewahrt und fachlich mit betreut worden. An Rassetauben wurden verschiedene Varianten der Thüringer Farbentauben gezüchtet wie: Thüringer Einfarbige (Grunz- bzw. Grundfarbige in den Auflistungen von Storch und Ziegler), Weißköpfe, Thüringer Schwalben (Schwalbenschwänze bei Storch u. Ziegler), Mäusertauben (Schwarzmäuser bei Storch u. Ziegler), Startauben (Schnürige bei Storch u. Ziegler), Mönchtauben, Schnippen, Schildtauben und Flügeltauben.
Der Thüringer Forstrat, Vogelkundler und Taubenzüchter JOHANNES MATHÄUS BECHSTEIN (1757 - 1822) war der Meinung, dass die Rasse der Thüringer Einfarbigen ursprünglich nicht erzüchtet wurde, sondern zufällig entstanden ist. Über 200 Jahre ist sie dann besonders im Thüringer-Wald-Dreieck Eisenach - Friedrichroda - Schmalkalden gehalten worden. Zu DDR-Zeit war der Ruhlaer Zuchtfteund Walter Zimmermann viele Jahre lang Vorsitzender der Sondervereinigung "Thüringer Farbentauben" und selbst erfolgreicher Züchter. Zweimal konnte er zur Lipsia-Schau mit Thüringer Schwalben den Staats-Ehrenpreis erringen. Die heutigen Vereinsmitglieder sind stolz, dass es diese Rassen in Ruhla heute noch gibt.


Ab Ende der 1890er Jahre gab es, unabhängig vom Geflügelzuchtverein, einen "Brieftauben-Club ‚Landgraf’ Ruhla i. Th.", der unter der Nummer 1444 schon Mitglied im "Verband deutscher Brieftauben-Liebhaber-Vereine" war. Er hatte etwa zehn Mitglieder in Ruhla und auch welche in Thal, Etterwinden und Förtha. Diese ersten Brieftaubenfreunde in Ruhla waren u. a.: August Seyfarth als Club-Vorsitzender, Paul Deußing, Ernst Deußing, Berthold Rödiger, Edmund Fries, Fritz Braun, Max Jöck, Edmund Erk. Der Bestand an Tauben war nahezu 100, mit den Auswärtigen zusammen über 160 Stück (Stadtarchiv Ruhla, Abt. 401). Der Club bestand bis zum Ersten Weltkrieg. Da mussten die Tauben lt. Reichsgesetz von 1894 als "Militär-Brieftauben" für Kriegszwecke zur Verfügung gestellt werden.
Als weitere spezielle Vereinigung gründete sich 1927 der "Brieftauben¬verein Erbstromtal/Ruhla 07027". Die ersten Mitglieder waren: Hans Rödiger, Ernst Gesell, Alfred Meloni, Paul u. Georg Rudolph, Hugo Bach, Alfred Schnittler, Albert Liebergeld, Franz Koburger.
Der Anschluss an die Reisevereinigung Wartburgland Eisenach erfolgte 1928. Man beteiligte sich dann an Wettflügen. Die Tauben wurden mit der Eisenbahn zu den Auflassorten zwischen Leipzig und Küstrin ge-bracht. Man schaffte eine für den Brieftaubensport entwickelte Konsta¬tieruhr an, in der man die genauen Ankunftszeiten der Tauben feststellen konnte. 1937/38 wurden dann Wettflüge aus Erlangen, Passau, Linz, St. Pölten, Wien und Budapest durchgeführt. Von Budapest bis Ruhla sind es 740 km Luftlinie. Diese Strecke bewältigten die Tauben bei günstiger Witterung in zwölf Stunden und weniger.
Der Zweite Weltkrieg bedeutete dann das Aus für den Sport mit den "Rennpferden der Lüfte". Brieftauben konnten noch gehalten werden, durch Polizeiverordnung war jedoch verboten, sie auf Reisen zu schicken. Sie sind zunächst mit zur militärischen Nachrichtenübermittlung eingesetzt worden. Da durften keine Vereins- bzw. Privattauben mehr fliegen.
1947/48 nahm der Verein seine Tätigkeit wieder auf. Nach Gründung der DDR ist er als Sektion "Sporttauben" mit 25 Mitgliedern in die Gesellschaft für Sport und Technik (GST) eingegliedert worden und entwickelte sich bei Unterstützung durch staatliche Institutionen recht gut.
Die Zahl der Auflassorte steigerte sich. Auch wurden spezielle Fahrzeu¬ge für den Taubentransport gebaut. Auf Wettflügen, die bis zu 1000 km gingen, konnten zahlreiche Medaillen, Spitzen- und Ehrenpreise errungen werden. Vorsitzende des Vereins nach 1945 waren Max Zimmer¬mann, Ernst Gesell, Hans Malz, Dieter Reif, Albrecht Michel, Herbert Steuding, Frank Ehrlich.

Nach der politischen Wende wurde die Flugrichtung von Ost nach West in West nach Ost geändert. Es gab andere Futtermittel, andere Flugmethoden, neue Technik, und Belgien als Mutterland der Brieftauben war nun pro¬blemlos erreichbar. Dort konnten Tauben gekauft und Größen des Brief¬taubensportes besucht werden. Aus der Richtung von Westen her sind dann auch gute Flugergebnisse mit hohen Fluggeschwindigkeiten bis 1800 m/min erzielt worden. Besonders gute Ergebnisse erreichte Uwe Malz mit seinen Tauben, und zwar bis 1998 drei Gold- und fünf Bronzemedaillen und stets vordere Plätze bei den Kreismeisterschaften.
In den dann folgenden Jahren verringerte sich die Zahl der Mitglieder stetig. Der Brieftaubensport hatte sich zu einem Hochleistungssport entwickelt, in dem nur noch erste Plätze zählen und es zuweilen auch um viel Geld geht. Bedingt durch die ungünstige Lage Ruhlas zu der vorgegebenen Flugrichtung haben es die Ruhlaer Tauben viel schwerer, da sie erst noch viele Meter höher fliegen müssen als andere, und durch die angestiegene Zahl verschie¬dener Greifvögel gab es immer wieder größere Verluste. Zum 31. 12. 2008 hat sich der Ruhlaer Brieftaubenverein bei einer Mitgliederzahl geringer als zehn schließlich aufgelöst.
Zur Zucht von Hühnern in Ruhla äußerte sich auch J. G. BRÜCKNER schon 1758: "Hühner hält fast jeder Hausvater, und zwar mehrenteils schöne Hühner, schwartze mit weissen Sträussen und der gleichen." Die Autoren V. HOFF und JACOBS sowie MOSCH und ZILLER erwähnen die Hühnerzucht in ihren Beschreibungen Ruhlas jedoch nicht. Für KANTOR BURCKHARDT war im Gedicht "Die allen Rühler" die Hühner- und Kampfhahnzucht aber ein Thema (s. S. 160). L. STORCH berichtete lediglich in einem Satz, dass die Rühler auch starke Vorliebe für die Hofhühner hätten und der Kampfhahn sich ihrer ganz besonderen Gunst erfreute. A. ZIEGLER, Chr. SUCK und andere Autoren erwähnen in ihren Orts-Beschreibungen die Hühnerzucht nicht.
Schon seit Ende des 18. Jh. hatte Ruhla in der Geflügelzucht über die regionalen Grenzen hinaus einen guten Ruf. Mit dem Namen Ruhla verbanden sich für viele neben der Finkenliebhaberei erfolgreiche Tauben- und Hühnerzucht. Die Ruhlaer sind einst nicht nur zum Finkenfang weit gelaufen, sondern auch, um Hühner und Tauben zu tauschen, zu kaufen und zu verkaufen.
Irgendwie sind mit direkten Meerschaumlieferungen für das Tabakpfeifen¬gewerbe Pawlowa-Hühner aus Südrussland nach Ruhla gekommen, und hier wurden sie mit Paduanern gekreuzt. Diese Kreuzungen sind mit zu den Vorfahren der Thüringer Barthühner zu zählen.
Bis in die zweite Hälfte des 19. Jh. züchtete jeder für sich. Es fehlte jede Einheitlichkeit. Dieser Fehler wurde erkannt und man gründete im Mai 1880 den "Geflügelzuchtverein Ruhla 1880". Erster Vorsitzender war der Initiator Carl Pflug.
Nun wurde eine klare Linie in die Zucht gebracht und erste Ergebnisse konnten im Mai 1883 in einer größeren Ausstellung im Gasthaus "Zur Harmonie" mit 248 Hühnern, 140 Tauben, 22 Enten und 58 Singvögeln gezeigt werden. Zur Finanzierung waren Anteilscheine zu je 10 Mk. verkauft worden, Ergebnis: 1250 Mk. Weitere größere Ausstellungen gab es 1898 und 1901 in der Turnhalle. Zum 25-jährigen Bestehen des über 90 Mitglieder starken Vereins wurde 1905 eine Geflügelschau mit der Ausstellung des Landesvereins für Geflügelzucht im Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach kombiniert, gezeigt wurden 169 große Hühner, 28 Zwerghühner und 200 Tauben. Elf Ruhlaer Züchter stellten die "Thüringer Pausbäckchen" aus (heute "Thür. Barthühner"). Wesentlichen Anteil am Zustandekommen dieser Schau hatte der spätere Bürgermeister von Ruhla GA, Paul König, der 1906 auch Vereinsvorsitzender wurde und es bis zu seinem Tode 1944 blieb. Ab 1930 war er auch Vorstandsmitglied des Bundes Deutscher Geflügel¬züchter. Ihm ist es zu verdanken, dass die Ruhlaer Züchtung der "Feder¬füßigen Zwergkauler" anerkannt wurde. Besonders setzte er sich ein für die Züchtung der Thüringer Barthühner in Ruhla.
Nach dem Zweiten Weltkrieg ist ab Mai 1946 der Geflügelzucht-verein unter dem Vorsitz von Max Zimmermann wieder ins Leben gerufen worden und 1948 wur¬den auch wieder Lokalschauen durchgeführt. Mit der Gründung des DDR-Verbandes der Klein¬gärtner, Siedler und Kleintierzüch¬ter (VKSK) wurde er dessen "Sparte Rassegeflügelzucht Ruhla". Vorsitzende waren ab 1946: Max Zimmermann, Albert Breunig, Hermann Wedel, Fritz Erk, Paul Thiel, Albrecht Gössel und ab 1977 bis heute Peter Hähnel.
Im Juli 1990 wurde der "Rasse-geflügelzucht-Verein 1880 Ruhla" neu gegründet und war mit seinen Thüringer Barthühnern und Zwergkaulern sowie mit den Rassetauben Thüringer Einfarbige erfolgreich.
Züchter des Vereins stellten ihre Tiere auf mehreren Lokal-, Landes- und Europaschauen aus.

Im Jahre 2005, zum 125-jährigen Bestehen des Vereins, erhielt der Vor-sitzende Peter Hähnel die vom Landesverband Thüringer Rassegeflügel-züchter geschaffene "Ehrenmedaille Paul König". Die vor über 350 Jahren in Ruhla schon üblich gewesene Liebhaberei der Tauben- und Hühnerzucht konnte also, mit durch die fördernde Tätigkeit des Vereins, bis heute erhalten werden.
Auch auf andere Liebhabereien bzw. Vergnügungen der alten Rühler soll in diesem ausführlichen Rückblick auf Sitte, Brauchtum, Aberglauben und liebhaberische Tätigkeiten zuletzt noch eingegangen werden. Bei Ludwig Storch ist zu lesen, dass die alten Rühler in ihrem Aberglauben, in ihren Spielen und Liebhabereien "am originellsten" waren, dass sie noch Spiele spielten, "die sich nur noch in England erhalten hatten", dass sie noch Tänze tanzten, die "die harmlose Naivität eines ursprünglichen Volkscharakters noch zur Anschauung brachten".
Dank der Tätigkeit der alten Heimatfreunde und -forscher in den Anfangs¬jahren des 20. Jh. konnten die alten Rühler Tänze "Spreenger, Schliffer, Milljonear, Müllchestaanz" und die Ruhlaer Version des Schusterwalzers wieder belebt und wieder bekannt gemacht werden und wurden so der Nachwelt erhalten. In den 1950er Jahren gelang dies Tanzlehrer Weyrich noch mit dem "Birnschöttler". Ein Singtext dazu, wie auch zum "Müllches¬taanz", konnte erst kürzlich in alten thüringischen volkskundlichen Unter¬lagen wieder gefunden werden. Tanzweise und Singtext des Siebensprungs sind auch wieder bekannt (s. S. 37), nur fehlt noch die Musik dazu. Wieder aufgegriffen wurden auch alte Rühler Lieder.
Nun zu den Spielen: An Sonn- und Feiertagen kam Alt und Jung zusammen, um u. a. mit einem "Flitschbojen" oder einem Blasrohr nach bunt bemalten, hölzernen Vögeln, nach Stern- oder Ringelscheiben zu schießen, um mit einem Ball nach aufgestellten Stöcken zu werfen oder mit einem Stock Bälle zu schlagen, die andere mit einem Stock abzufangen und in Löcher im Erdboden zu bugsieren hatten.
Vorwiegend die Männer spielten das Kegelspiel. Da wurden Kugeln mit Grifflöchern im Bogen bis vor die aufgestellten Kegel geworfen und rollten dann in diese hinein. "Kuilplatz" (Kegelplatz) und "Kuilleich" (Kegelbahn) waren an der "Öngergass", der heutigen Marienstraße im Bereich der jetzigen Druckerei Löhr. Ein beliebtes Spiel war das "nach der Geiß werfen", entweder nach der dreibeinigen (s. S. 37) oder nach der steinernen. Da wurde ein kurzer, dicker Knüttel nach dem Kuppelstein einer kleinen, aus Steinen aufgebauten Pyramide geschleudert.
Mannigfach und zum Teil kompliziert waren die Spiele mit "Stännern", mit den bunten, steinernen, in "Märbelmühlen" hergestellten, kleinen Kugeln von etwa 15 mm Durchmesser (Murmeln, Mörmel oder Märbel, "Stänner" ist herzuleiten von steinern). Spielarten waren in Ruhla das "Peecken" (Picken), das "Schnappen" (Schnippen), das "Schießen", das "Schacken" (Werfen), das "Fahen" (Fangen), das "Schnipp unn Spann".
Zum "Peecken" gehörten das mit dem Schuhabsatz in den Erdboden "gedräwelte Peecklooch", etwa 6 cm tief und 12 cm im Durchmesser, 8 - 10 Stänner darin und das "Peeckiesen", ein beliebiges, kleineres Stück Eisen. Von einer bestimmten Entfernung aus, "Mal" genannt, warf jeder Mitspieler sein Eisen zum Loch, um möglichst mehrere Stänner herauszustoßen. Eisen, die nicht getroffen hatten, blieben liegen. Nach ihnen warfen dann die, die Stänner aus dem Loch gestoßen hatten. Gerufen wurden "Hatz" bei schnell erzielten Volltreffern, "Schlunz" beim Berühren oder Streifen des Ziels, "Gleetschen in Loach", wenn ein Spieler das Loch neu ausglätten sollte oder wollte. Eine Variante des Spiels war, nicht mit Eisenstücken zu werfen, sondern mit größeren "Peeckstännern".
Beim "Schnappen" wurden die Stänner im gekrümmten Zeigefinger gehalten und mit dem Daumen nach anderen, in eine Linie gelegten Stännern geschnippt. Wer die meisten herausschnippte, hatte gewonnen. Oder es wurden Stänner nach Stöckchen geschnippt, auf denen Münzen lagen. Die beim Treffer herabfallenden waren der Gewinn des Schnippers.
Beim "Schacken" wurde eine Hand voll Stänner nach dem Pickloch geworfen. Die Zahl der darin liegen gebliebenen bestimmte Gewinn oder Verlust.
Beim "Schießen" wurden um ein kleineres Loch zwei konzentrische Kreise gezogen wie auf einer Schießscheibe. Jeder Spieler musste versuchen, jeweils einen Stänner ins Loch zu werfen. Hatte er einen Treffer, durfte er in den inneren Ring gefallene Stänner anderer Spieler mit dem Zeigefinger weiter zum Loch hin schnippen oder welche aus dem äußeren Ring auf Stänner im inneren Ring schießen. Traf er da mit beiden ins Loch, war es ein "Rupsen unn Kleetschen", nämlich ein "Anruppeln und schnell ins Ziel klatschen". Wer die meisten Stänner ins Loch warf oder schoss, hatte ein "Bewes" gemacht, einen Hauptgewinn. Eine Variante für Mädchen war auch, die Stänner aus bestimmten Entfernungen gleich ins Loch kullern zu lassen.
Beim "Fahen", das ebenfalls ein Mädchenspiel war, musste ein hochgewor¬fener, auf eine Steinplatte zurückgefallener und von da wieder hoch¬geschnellter Stänner gefangen werden bei gleichzeitiger Wegnahme eines anderen Stänners von der Steinplatte.
Bei "Schnipp unn Spann" wurde nicht in ein Loch gezielt. Die Spieler schnippten nacheinander von einer bezeichneten Stelle auf einer geneigten Fläche aus jeweils einen Stänner hinunter, der auf einem sich anschließenden ebenen Stück weiterrollen und einen oder zwei schon dort liegende Stänner anstoßen oder in Spannweite liegen bleiben musste. Wer die meisten Treffer oder größte Nähen erzielte, hatte gewonnen.
An Stännerwerf- oder -schießspielen nahm oft eine größere Zahl von Männern teil, und die Spiele konnten Stunden dauern. Mit Stännern haben wir vor gut 70 Jahren noch gespielt. Jeder, der mitmachte, hatte eine Hosentasche oder ein kleines Säckchen voll davon. Auch Jahrgänge nach uns kannten und spielten die einfachen Arten des "Stännerns" noch.

Auszug aus dem Gedicht "D’r Schissplatz" von Ludwig Storch:

Förr de Jongen gaob’s kei anner Fleack
zum Schissen so bequem,
bie daos vörr unsen Schnieder sinn Huss,
unn keis so ungenähm.

Daos Pleatzchen vörr d’r Schniederschtür
woir allen Jongen örr Ziel.
Dao laogken se d’n gaanzen Taogk
in lostchen Stännerspiel.

Miet’n Measser worrn ea Kreis gemaoicht,
ea Kutten unn ea Maol.
Unn in dan Kreis saotzt jeder Jong
si reechtich Stännerzaohl.

"Ea Rupsen unn Kleetschen" rief ea Jong,
ea "Bewes" wuir gemaoicht.
Daos fiengk un, bann de Schul uis woir,
unn duirt bis in de Naoicht.

Auf noch andere Spiele der alten Rühler ist schon auf S. 37 eingegangen worden. Begriffe und Ausdrücke aus dem Stännerspiel waren noch lange in der Mundart im verwandten Sinne geläufig. So meinte man mit "Kaasnuiz" einen Taugenichts: "Hea ies ea Mun önger Männern bie ea Kaasnuiz önger Stännern." Ursprünglich war es ein unrunder Stänner oder ein spaßeshalber aus ungebranntem Ton gemachter, der bei einem heftigeren Anstoß auseinan¬derfiel, also in beiden Fällen wertlos war.
Weiterhin sagte man in der Mundart: "Hea hät ea Bewes gemaoicht" und meinte, Glück oder Erfolg gehabt zu haben.
Wenn einer etwas ganz schnell erledigt hatte, hieß es: "In Rupsen unn Kleetschen woir hea fertich."
"Ich hun ühn Hatz gegaan" bedeutete: Ich habe ihm ordentlich die Meinung gesagt, einen Schlag versetzt.


Quellen und relevante Literatur
Bechstein, Johann Matthäus, Naturgeschichte der Stubenvögel, Gotha 1795
Beck, August, Geschichte des gothaischen Landes, Bd. III, Landstädte, Marktflecken und Dörfer, Gotha 1876
Brückner, Johannes Georg, Sammlung verschiedener Nachrichten zu einer Beschrei¬bung des Kirchen- und Schulenstaates im Herzogthum Gotha. II. Theil, Gotha 1758/59
Familienchronik Dreiß
Handschrift 2° DHB Ms. Chart 7, Bl. 152 v., Stiftsbibliothek u. -archiv Zeitz und Übersetzung
Heimat-Grüße, Beilage der Ruhlaer Zeitung, Ausg. Juni u. Juli 1932 und Jg.1935
Heimatkartei der Ortschronik-Sammlung
Herzog, Carl, Taschenbuch für Reisende durch den Thüringer Wald, Magdeburg 1832
v. Hoff, Karl Ernst Adolph u. Christian Wilhelm Jacobs, Der Thüringer Wald, beson-ders für Reisende geschildert, 1. Bd, Gotha 1807
Köllner, Lotar, Hrsg., All Rühler Oirt, Gedichte in Ruhlaer Mundart, Ruhla 2002
Lauffer, O. Singvögel als Hausgenossen, in: Deutscher Glauben und Brauch, Berlin 1939
Lemke, Emil, Der Buchfink in: Die gefiederte Welt, 23/1938
Mosch, Carl Friedrich u. Friedrich Carl Christian Ziller, Versuch einer Beschreibung der Sachsen-Gothaischen Lande, Gotha 1813
Suck, Chr., Führer durch Ruhla in Thüringen und seine Umgebung, Ruhla 1891
Regel, Karl, Eine Anweisung über Finkenzucht aus dem 15. Jh., in: Zeitschr. für deutsche Philologie, 8/1877
Schlothauer, Arno, Die Finkenzüchter zu Ruhla, in: Geflügel-Börse, Leipzig 1932, 53. Jg. Nr. 85 vom 2. November
Stadtarchiv Ruhla (StAR), Abteilung 401
Storch, Ludwig, Die Ruhl und die Rühler, in: "Die Gartenlaube", Illustriertes Familienblatt, Leipzig 1856, Ausg. 27 - 29
Thüringen in Wort und Bild, Berlin 1900
Unterlagen von Peter Hähnel und Albrecht Michel
Wille, Lutz u. Dieter Spormann, Hrsg., Buchfink und Mensch, Benneckenstein 2008
Ziegler, Alexander, Der Rennsteig des Thüringerwaldes, Dresden 1862
" Das Thüringerwalddorf Ruhla und seine Umgebung, Dresden 1867
Zuarbeiten zur Tauben- und Hühnerzucht von Peter Hähnel und Albrecht Michel

aus Lotar Köllner, "Mi Ruhl, mi Heimet", Band 3, 2014, Verlag Ruhlaer Zeitung